Kanzler AD Schmidt
Einander Vertrauen

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, sehr verehrte Gäste,
meine lieben Partner und Mitarbeiter,

wie wird unsere Vision von einer noch besseren Gesellschaft in 30 Jahren aussehen?
Was wünschen wir uns von unserer gemeinsamen Zukunft? Und was sind wir bereit, dafür zu tun?

Aus den vermeintlichen Zumutungen des Reformjahres 2003 müssen wir eine gemeinsame Idee vom Leben und von der Gerechtigkeit entwickeln. Das Ziel der Anstrengungen muss eine bessere Gesellschaft sein. Jeder muss davon profitieren können, so wie jeder dabei mithelfen muss.

Wir müssen uns verändern, damit alles so gut bleibt wie bisher. Veränderungen ohne akuten Leidensdruck stellen die Vernunftbegabung einer Gesellschaft jedoch auf eine harte Probe.

Wer liest, wie es Ihnen, Herr Bundeskanzler, und Ihrer Frau in den Wirren des Krieges ergangen ist, verspürt Demut und Respekt. Sie haben viel erlitten, aber vor allem viel geleistet. Optimistisch und voller Vertrauen in die Zukunft waren Sie, ohne je mit dem Schicksal zu hadern.

Der Leidensdruck, den unsere Eltern und Großeltern noch physisch in Form von Hunger, Armut und Vertreibung gespürt haben, plagt uns heute nicht. Wir werden nicht existenziell herausgefordert. Deshalb ist Wandel für uns vor allem eine intellektuelle Herausforderung.

Wenn wir das Vermächtnis unserer Vorfahren bewahren wollen, müssen wir es als Startkapital für einen neuen Aufbruch begreifen. In Bequemlichkeit und Selbstzufriedenheit zu verharren, hieße das Erbe leichtfertig und verantwortungslos aufs Spiel zu setzen. Wir können unseren Kindern nur eine freiere, noch gerechtere Welt vererben, wenn wir mehr Veränderung wagen. Begeistern wir uns wieder für technischen Fortschritt, unternehmerische Erfolge und Innovationen.

Der Stolz auf das gemeinsam Geleistete – und gemeinsam Erwirtschaftete – ist wichtig für das Selbstvertrauen jedes Einzelnen und den Zusammenhalt der Gesellschaft. Jeder hat danach zum Erfolg beigetragen, so wie er es eben konnte.

Wir sind Gestalter der finanziellen Zukunft unserer Mitmenschen. Wir erklären unseren Mitbürgern, dass sie die Hälfte der Kollektivrisiken zukünftig privat absichern müssen. Dass sie mehr für ihre Alterssicherung, für die Absicherung der Arbeitskraft, für die Krankenversicherung abgeben müssen. Sagen wir ihnen, warum das nötig ist. Und vor allem, welchen Vorteil wir alle davon haben, dass sich jeder seiner Verantwortung für sich und die Gemeinschaft bewusst ist, Vermögen bildet und sich gegen Risiken absichert.

Dass wir dabei einen zutiefst sinnvollen gesellschaftlichen Auftrag ausführen, ist das eine. Dass wir Menschen für eine erfolgreiche Zukunft als selbstständige Unternehmer begeistern, Produkte verkaufen, Werte produzieren, Nachwuchs rekrutieren, Büros anmieten, Geschäftseinrichtungen und Autos kaufen, Arbeitsplätze schaffen und Steuern zahlen, das andere.

Es ist ein Privileg, Steuern zu zahlen. Die Ursache für Steuern ist der unternehmerische Erfolg, der Gewinn. Es ist sinnstiftender, zum Wohlstand der Gesellschaft beizutragen, als die Solidargemeinschaft on Anspruch zu nehmen. Im Notfall jedoch versorgt zu sein, im Sinne der „Basic Needs“, gibt einem den Rückhalt dafür, immer wieder etwas zu riskieren. Insofern hat gerade der Unternehmer ein Interesse an einem funktionsfähigen und leistungsfähigen Sozialstaat.

Wir werden die Herausforderungen unserer Zeit anpacken, so wie es unsere Vorfahren getan haben. Die Aufgaben sind  anderer Natur als früher, als das zerstörte Deutschland mit bloßen Händen wieder aufgebaut werden musste, aber nicht minder herausfordernd. Wieder ist es eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, der wir uns stellen. Jammern hilft nicht, Weinerlichkeit ist fehl am Platz. Es gibt auch keinen Grund dafür.

Die Leistung unserer Vorfahren, das Erbe einer freien und sozialen Gesellschaft, gebietet Respekt und ist zugleich Verpflichtung, es mindestens genauso gut zu machen.

Wir wollen uns selbst vertrauen.

Wir wollen einander vertrauen. Und gemeinsam wollen wir auf eine Zukunft in Frieden, Freiheit und Wohlstand vertrauen.

Maximilian Beck im Gespräch mit
Bundeskanzler a. D. Helmut Schmidt
(Auszug)

Maximilian Beck: Herr Bundeskanzler, Sie haben vor kurzem mit deutlichen Worten die Weinerlichkeit der ostdeutschen Rentner angeprangert. Dafür sind Sie kritisiert worden, zum Teil auch sehr heftig. Hat Sie diese Reaktion überrascht?

Helmut Schmidt: Nein. Aber Tatsache ist doch: Die Gesellschaften überaltern. Es gibt immer mehr Rentner und immer weniger junge Leute, die die Steuern erwirtschaften und die Sozialversicherungsbeiträge zahlen sollen. In ganz Europa müssen die Menschen in Zukunft mit weniger Rente leben. Und die bekommen sie dann auch noch später: Die Lebensarbeitszeit wird länger. Außerdem müssen mehr Kinder geboren werden. Das ist das schwierigste. Es klingt ja so einfach: Man braucht eine Nacht und ein wenig Glück, dann ist nach neun Monaten ein Kind da. Mit noch etwas mehr Glück ist nach 25 Jahren ein Steuerzahler da. Mit ganz besonders viel Glück ist nach 30 Jahren ein Unternehmer da! Seit 1990 ist klar, dass wir überaltern. Nur wurde bisher nicht wirklich die Konsequenz daraus gezogen. Die Ausnahme bilden Dänemark, Schweden und die Niederlande. Diese kleinen Staaten Europas haben die Kraft gehabt zu handeln. Die Deutschen nicht. Wir ziehen es vor, zu jammern.

Maximilian Beck: Sie haben das totale Versagen bei der wirtschaftlichen Wiedervereinigung beklagt. Woran machen Sie das fest und zu welchen Maßnahmen raten Sie jetzt?

Helmut Schmidt: Manche der Fehler, die 1990 gemacht worden sind, kann man nicht mehr korrigieren. Die ehemalige DDR macht immerhin ein Drittel unseres heutigen Staatsgebietes und ein Fünftel unserer heutigen Bevölkerung aus. Wir erwirtschaften aber auf dem Gebiet des ehemaligen DDR nur ein Zehntel des deutschen Sozialprodukts. Es fehlen ungefähr 100.000 bis 150.000 Selbstständige und Unternehmer in Ostdeutschland. Warum gibt es sie dort nicht? Ein Grund dafür ist, dass die Menschen in der DDR dazu erzogen worden sind, zu tun, was der Staat oder die Partei angeordnet hat, und nicht selbst etwas in die Hand nehmen. Ein anderer Grund ist, dass 1990 über Nacht hunderttausende von westdeutschen Paragraphen in der DDR in Kraft gesetzt worden sind, mit denen kein Mensch umgehen konnte. Auch heute noch sind die meisten Finanzämter in Ostdeutschland mit Westdeutschen besetzt, weil sie die Einzigen sind, die mit den Gesetzen zurecht kommen. Gleiches gilt für die Landesarbeitsämter und die Universitäten.

Kein Selbstständiger mit einer Belegschaft von fünf Leuten kann ohne Steuerberater seine Steuererklärung ausfüllen. Es ist ihm völlig unmöglich, die Steuergesetzgebung zu durchschauen. Gerade den Ostdeutschen muss auf dem Gebiet der Bürokratie ein Vorteil verschafft werden. Das ist notwendig, weil die Ernährung Ostdeutschlands durch westdeutsche Transferlieferungen so wie heute nicht mehr lange weitergehen kann. Gegenwärtig wird die ostdeutsche Wirtschaft jedes Jahr mit 83 Milliarden Euro, die aus Westdeutschland netto transferiert werden - Steuerrückflüsse schon abgezogen -, subventioniert. Das sind grob gerechnet vier Prozent des gesamtdeutschen Bruttosozialprodukts. Mit vier Prozent ihres Sozialprodukts beherrschen die USA machtpolitisch die ganze Welt. So hoch ist nämlich der amerikanische Verteidigungsetat. Wir stecken vier Prozent unseres Sozialprodukts in ostdeutsche Renten, in ostdeutsche Notzuschüsse, in ostdeutsche Arbeitslosengelder. Von diesen 83 Milliarden werden jedoch drei Viertel konsumiert, nicht etwa investiert. Und da wundern wir uns, dass Ostdeutschland nicht in Gang kommt und dass dort die Arbeitslosigkeit im Durchschnitt mehr als doppelt so hoch ist wie im Westen.

Nach 1996 ist der Aufholprozess Ostdeutschlands zum Stillstand gekommen. Trotzdem hoffen die Politiker weiterhin auf eine große Industrieansiedlung. Aber warum sollte eine Industrie von Westdeutschland nach Ostdeutschland gehen? Der einzige Vorteil wäre, dass dort tatsächlich keine Tariflöhne gezahlt werden müssen. Dieser Vorteil reicht aber nicht aus, um hier eine Industrie dichtzumachen und sie in Chemnitz wieder aufzubauen. Wir können nicht auf Dauer vier Prozent unseres Sozialprodukts an Ostdeutschland transferieren. Die Westdeutschen werden dagegen revoltieren. Man muss den sechs ostdeutschen Landtagen das Recht geben, allzu komplizierte Gesetze aufzuheben. Zum Beispiel das Gesetz, das jeden, der einen kleinen Laden aufmachen möchte, zwingt, Mitglied der Industrie- und Handelskammer zu werden.

Wer sein Leben lang ein erstklassiger Kraftfahrzeugmechaniker war und durchaus in der Lage ist, ein Auto zu reparieren, muss eine Meisterprüfung haben, sonst darf er keine Reparaturwerkstatt aufmachen. Dieses Gesetz sollte zum Beispiel der Landtag in Brandenburg aufheben dürfen. Heute darf er das noch nicht. Da muss die Verfassung geändert und ihm das Recht gegeben werden, Bundesgesetze insoweit aufzuheben.

Handelskammerzwang, Innungszwang! Sie brauchen von einem Auto nichts zu verstehen und können Vorstandsvorsitzender von Daimler Chrysler werden. Aber Sie müssen eine Meisterprüfung haben, um ein Auto reparieren zu dürfen. Das ist deutscher Blödsinn!

Maximilian Beck: Die Wachstumsraten der deutschen Wirtschaft sind heute niedriger als früher. Werden wir uns an schwaches Wachstum oder gar Stagnation gewöhnen müssen?

Helmut Schmidt: Bis zur Ölpreiskrise 1973 waren sehr große Zuwachsraten möglich. In jenen Jahrzehnten gab es die Hälfte der Gesetze, von denen ich eben sprach, noch nicht. Seitdem haben wir Deutschland mit Gesetzen zugepflastert. Ein weiterer Grund waren die relativ vernünftigen Lohnsteigerungen in der verarbeitenden Industrie. Seit den 70er Jahren haben wir es jedoch mit einem Machtkartell zwischen Arbeitgeberverträgen und Gewerkschaften zu tun. Dieses Kartell hat die Löhne schneller angehoben, als das Sozialprodukt gewachsen ist. Die Arbeiter haben davon natürlich profitiert, aber immer weniger Leute hatten Arbeit infolge der Verteuerung der Arbeit. Die Lohnpolitik der letzten 20 Jahre war unvernünftig, ähnlich wie in Frankreich, Italien und den Niederlanden. Bis zu Maggie Thatcher war es auch in England so.

Ein weiterer Grund für die gesunkenen Wachstumsraten liegt in der Tatsache, dass wir in den letzten 25 Jahren die Sozialleistungen insgesamt zu weit nach oben getrieben haben. Das gilt abermals für ganz Westeuropa, mit einer Ausnahme: England.
Maximilian Beck: Steuern wir in der sozialen Frage auf englische Verhältnisse zu?

Helmut Schmidt: Nein. Und das sollten wir auch nicht. Die Engländer haben das Niedrighalten der Löhne und den Abbau der Sozialleistungen übertrieben.
Wenn Sie in der City Banker sind, geht es Ihnen gut. Sind Sie jedoch Witwe eines Stahlarbeiters, geht es Ihnen nicht so gut. Sie brauchen entweder die Kirche, die Gemeinde, den Sohn oder den Schwiegersohn. Von der Rente allein kann kaum einer leben.

Maximilian Beck: Müssen wir uns mit der Massenarbeitslosigkeit arrangieren?

Helmut Schmidt: Nein. Ich bin durchaus der Meinung, dass wir die Zahl der Arbeitslosen auf zwei Millionen reduzieren können. Das würde jeder vernünftige Mensch als Vollbeschäftigung ansehen. Aber zunächst muss die Unzumutbarkeitsregel weg. Warum soll ein gesunder 30-jähriger nicht Obst pflücken statt Arbeitslosengeld zu kassieren? Das ist eine der vielen gesetzlichen Vorschriften, die die Beweglichkeit der deutschen Wirtschaft und damit der Gesellschaft behindern.

Maximilian Beck: Wie können wir etwas von der Tatkraft und dem Mut der Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs ab 1950 wiedererlangen? Auf welche Qualitäten sollten wir Deutschen uns besinnen?

Helmut Schmidt: Das ist eine Generationsfrage. Die beiden Generationen, die nach 1945 den Staat und die Wirtschaft wieder Aufgebaut haben, hatten den Dreck am eigenen Leibe erlebt. Sie waren erfüllt von dem Vorsatz, alles zu tun, damit sich so etwas nie wiederholt. Die wollten nicht reich werden, sonder Deutschland wieder in Ordnung bringen. Die heutigen Generationen haben ein relativ leichtes Leben hinter sich. Vielleicht haben Sie Pech gehabt, eine verlorene Liebe, eine verlorene Ehe, ein ökonomischer Misserfolg. Aber das ist privates Schicksal. Das Schicksal des Volkes, der Gesellschaft, des Staates insgesamt ist für sie glimpflich verlaufen. Sie sind ganz normale Menschen und regieren ihre Unternehmen und Ihre Staaten wie normale Menschen. Aber: Auch in nachwachsenden Generationen können sich Führungsbegabungen durchsetzen und die Entwicklung in die richtige Richtung lenken.

Wir erleben gegenwärtig ein begeisterndes Beispiel für das plötzliche Auftauchen von Führungsstärke in China. Die chinesische Nation hat eine seit 4.000 Jahren nicht unterbrochene Geschichte. Selbst ein sehr altes Volk ist unter erstklassiger – wenn  auch nicht demokratischer – Führung  in der Lage, Leistungen zu vollbringen, die vor 20 Jahren kein Mensch für möglich gehalten hätte. In 20 Jahren wird das chinesische Sozialprodukt so groß sein, wie das der Europäischen Union. China ist bereits die Nummer 6 im Welthandel und wird in 20 Jahren die Nummer 2 oder 3 sein. Und in
50 Jahren wird das amerikanische Sozialprodukt kleiner als das chinesische sein, wenn es keine Katastrophe gibt. Und wenn die Chinesen diesen Aufschwung aufrechterhalten können. Immerhin wächst die chinesische Wirtschaft seit 20 Jahren mit über acht Prozent pro Jahr.

Ich benutze das chinesische Beispiel, um Mut zu machen. Wieso sollten die Europäer schlechter sein als die Chinesen? Die Chinesen zeigen im Moment, was Menschen leisten können. Eine Generation davor haben es die Japaner gezeigt, davor wir Deutschen. Natürlich bedarf es einer kraftvollen Führung im Unternehmen, in der politischen Partei und im Staat. Aber das hängt ja auch ein bisschen von Ihnen ab.

Sie haben noch 50 Jahre vor sich. In diesen 50 Jahren können Sie eine ganze Menge bewegen!